Mode

In der Tradition verwoben

Heft 05, 2020

In der Tradition verwoben

Vandana Bhandari |Autor

Heft 05, 2020


Von den Stämmen hergestellte Textilien sind in Indien ein Symbol für die uralten Verbindungen zwischen den Gemeinschaften, Kulturen und Legenden. Prof. Vandana Bhandari beschreibt ihre faszinierende Geschichte und einzigartige Identität

Die Textilien der indigenen Stämme sind ein integraler Teil ihrer Demographie. Mittlerweile haben indische Designer die weniger bekannten Materialien und Webtechniken der entlegenen indischen Stammesgemeinschaften ins Rampenlicht gerückt. Zu dem Aufschwung trägt auch der indische Premierminister Narendra Modi bei, der die Kunsthandwerker aus den ländlichen Gegenden durch Maßnahmen und sein persönliches Erscheinungsbild fortwährend ermutigt. Bei seinen öffentlichen Auftritten trägt er oft von den Stämmen hergestellte Kleidungsstücke wie beispielsweise den assamesischen Gamosa (ein traditionelles weißes Tuch mit roten Motiven) und die Himachali-Mütze.

In Indien sind die von einer Gemeinschaft produzierten Textilien Teil des sozialen Gefüges, der Kultur und des Alltags. Die Stoffmuster symbolisieren die soziokulturelle Identität der Stämme in Indien.

Lambadi-Stammesfrauen aus Andhra Pradesh tragen spiegelbestickte Kleidung. Silberschmuck, Elfenbeinarmreifen und Kopfschmuck sind typische Accessoires

 

Stoffe aus dem Nordosten

Die im Nordosten hergestellten Textilien basieren auf den Geschichten und Legenden der hiesigen Traditionen, Gebräuche und Feste. So spiegelt sich beispielsweise die Legende von Tejimola, einem assamesischen Volksmärchen von einem jungen Mädchen, in den Symbolen des legendären assamesischen Tuchs wider, dem Mekhela Chador (Saador). Die Geschichte bezieht sich auf die Paat Mekhela – Riha (Seidengewand), einen goldenen Brokat-Saador (Tuch) und die emotionale Beziehung der Hauptperson zu dem Kleidungsstück aus Tejimola.

Rabari-Stammesangehörige aus Rajasthan in ihren traditionellen Baumwollgewändern mit hellen Turbanen und einheimischem Schmuck

Auch das traditionelle Kleidungsstück der Karbi-Frauen aus Assam, der Pe-Kok (ein Schaltuch), der mit Pinicamflak (von der Taille bis zu den Knien reichend) getragen wird, ist voll mit bunten Motiven und Mustern, die den Familienstand repräsentieren.

Für die Frauen des Tripuri-Stammes aus Tripura zeigt das traditionelle Kleidungsstück Riha ihre Kultur und erzählt Geschichten aus ihrem Leben. Die Adi-Stammesfrauen in Arunachal Pradesh weben ihre Stoffe auf dem Gekong-Galong (einem einheimischen Bambuswebstuhl). Die typischen Wickelröcke werden auf diesen Webstühlen hergestellt.

Die Mishing- (Misin-)Stammesangehörigen von der assamesischen Insel Majuli weben auf ihren Bambuspedalwebstühlen die typischen Sonne- und Mondmuster – was für die Mutter und den Vater des Stammes stehen soll. Ein wiederkehrendes Design der Mishing-Webkunst ist der Diamant, der für Chang Ghar steht, ein Haus, das zum Schutz der Bewohner vor Überflutung auf einer erhabenen Plattform errichtet wurde.

Vom Alltagsleben inspirierte Muster findet man auch auf dem assamesischen Gamosa (Gamcha), der innerhalb der Gemeinschaft als Zeichen des Respekts verschenkt wird.

Stickereitradition

Die Stickerei ist eine Spezialität des Lambadi-Stammes aus Andhra Pradesh. Die Stammesfrauen schmücken sich und ihre Kleidung großzügig damit und besticken oftmals alte, getragene Kleidungsstück in dekorativer Weise.

Zeremonielle Kostüme wie der Mekhela Saador und Gamosa gehören unbedingt zu assamesischen Festen

Perlenstickerei ist beliebt bei den Bhil- und Rabari-Stämmen in Madhya Pradesh, Gujarat und Rajasthan. Der Rabari-Stamm verwendet für seine Stickerei großzügig Spiegelsteine in verschiedenen Formen und Größen und integriert auch Fransen, Glasperlen und Plastikknöpfe.

Der Toda-Stamm aus den Nilgiri-Bergen in Tamil Nadu ist ebenfalls stolz auf seine Stickerei. Die Tradition, für die ein Stopfstich (aneinandergereihte gerade Linien) verwendet wird, ist unter dem Namen Pugur bekannt. Die Muster sind von der Natur inspiriert und werden mit roten und schwarzen Fäden gestickt. Der traditionelle bestickte Schal namens Puthukuli steht für Ästhetik und Würde.

Die Stämme aus Bastar in Chhattisgarh und der benachbarten Region Koraput in Odisha verwenden ein natürliches Färbemittel namens Aal, um ihre Stoffe zu färben. Die Weber aus den Dörfern Tokapal, Nagarnar und Kondagaon in Bastar arbeiten auf Grubenwebstühlen mit ungebleichten Baumwollfäden, um einen Stoff namens Pata herzustellen, dessen Ränder mit Aal eingefärbt werden. Diese Stoffe werden hauptsächlich von Frauen der Muria- und Maria-Stämme gewebt und zeigen ihren sozialen Status.

Aal wird auch im Mirigan Sai (Weberbezirk) in Kotpad verwendet, einer Kleinstadt im Distrikt Koraput in Odisha. Dort werden Garnbündel, die mit Rizinusöl und Dung behandelt wurden, in Aal getaucht, um Rot-, Kastanien- und Brauntöne zu erzeugen.

Vor kurzem erklärte PM Modi bei einem internationalen Webinar zu indischen Textilien, dass natürlich eingefärbte Baumwolle und Seide eine lange, ruhmreiche Geschichte haben und die Vielfalt der Textilien ein Beispiel für die reiche Kultur des Landes sei. Im Hinblick auf die einzigartigen Stoffe in jeder Gemeinschaft, jedem Dorf und Bundesstaat in Indien verwies er insbesondere auf das Stoffrepertoire der Stammesgemeinschaften der Nation.

Bei den von den Stämmen hergestellten Stoffen geht es um Geschichte, Tradition, Aufschwung und Fortschritt. Viele weniger bekannte Stoffe tauchen heute wieder auf. Die Handwerkskunst, die für diese einheimischen Stoffe erforderlich ist, ist nicht nur Bestandteil der ‚Make in India‘-Kampagne des Premierministers, sondern ist auch ein Anreiz für die Handwerker und fördert nachhaltige Mode.

Vandana Bhandari

Vandana Bhandari is a professor at National Institute of Fashion Technology. She brings new dimensions to the research of textile traditions and sustainability of crafts in India. Her teaching focusses on traditional Indian textiles, Indian dresses and craft studies, and encompasses economic sustainability for artisans.
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