Kunst

Sprechende Wände

Heft 02, 2019

Sprechende Wände

Shaleen Wadhwana |Autor

Heft 02, 2019

Patanjali Pundit |Autor

Heft 02, 2019


Ein Flötenverkäufer verkauft am Straßenrand seine Ware; ein Sardarji liest Zeitun hinter einem Stapel Bücher; ein kleines Stück weiter hat eine Ladenbesitzerin ein wachsames Auge auf ihre Süßigkeiten, während eine Kuh träge glotzt… Alles scheint in b...

Ein Flötenverkäufer verkauft am Straßenrand seine Ware; ein Sardarji liest Zeitun hinter einem Stapel Bücher; ein kleines Stück weiter hat eine Ladenbesitzerin ein wachsames Auge auf ihre Süßigkeiten, während eine Kuh träge glotzt… Alles scheint in bester Ordnung in dieser typischen Szenerie aus einer kleinen oder großen Stadt in Indien. Die Einzigartigkeit liegt darin, dass alle lebenden Figuren überlebensgroß und Teil eines Straßenwandbildes sind. Es ist unglaublich, dass diese riesigen und farbenfrohen Kunstwerke einen ruhigen Wohnbezirk in Neu Delhi vollkommen verändert haben. Lodhy Colony hat sich von einem unbekannten Viertel mit langweiligen, einförmigen Gebäuden zu einem quirligen Kaleidoskop einer Parallelwelt entwickelt; eine lebendige Leinwand, die Geschichten aus unserem Umfeld und darüber hinaus zum Leben erweckt! Die blanken Wände entlang der Straßen sind zu Leinwänden für Künstler aus Indien und aller Welt geworden, die die Gegend zum ersten öffentlichen Kunstdistrikt Indiens gemacht haben.

Einstmals

Der Wohnbezirk Lodhi in South Delhi wurde in den 1940er Jahren für Regierungsmitarbeiter erbaut. Der Gebäudekomplex, das letzte Wohnviertel aus der Zeit der Briten, wurde im neoklassizistischen Baustil mit einer barackenähnlichen Platzierung der Häuser fertiggestellt, was ein Standardmerkmal der Architektur der Kolonialzeit war. Heute haben Künstler im Rahmen öffentlicher Kunstprojekte Teile davon bemalt und das Viertel ist vollkommen verwandelt. Die Wände, Wege und Gassen sprudeln über vor vielerlei Farben, trubelige Shops und Cafes verwandeln sich selbst in Kunstgalerien und Besucher kommen andauernd – das Viertel ist auf der Beliebtheitsskala nach oben geschossen und hat sich einen neuen Namen gegeben: Lodhi Art District. Die Straßenkunst oder öffentliche Kunst, wie man sie auch allgemein nennt, entstand aus der einfachen Idee, dass Kunst nicht nur auf Leinwände für eine ausgewählte Gruppe Menschen beschränkt sein kann. Sie ist nun rechtlich und gesellschaftlich akzeptiert und unterscheidet sich damit vom Graffiti-inspirierten Vandalismus der 1960er Jahre. Man sagt, dass die öffentliche Kunst Freude in stressige Städte bringt und das Leben der geschäftigen Bewohner erleichtert. In Lodhi Colony ist dieser Wandel überall sichtbar.

Letters for Lodhi, inspiriert durch visuelle Hinweise auf alte indische Streichhölzer, ein buntes Wandbild von Yok und Sheryo (links) und das Wandbild von Sam Lo (rechts), das die Geschichte erzählt, wie die Taten eines kleinen Spatzes mit dem Schicksal eines anderen verknüpft sind

Sinneswandel

Die Kunstwerke haben nicht nur die Wände der Kolonie verschönert, sondern scheinen auch das Viertel sauberer und zufriedener gemacht zu haben! Eines der wichtigsten, immateriellen Ergebnisse des Projekts ist, dass die Bewohner, Straßenverkäufer, Ladenbesitzer und städtischen Arbeiter gemeinschaftlich als Bürger stolz sind. Die Kunst durchdringt das soziale Gefüge der Kolonie. Von den Bewohnern, die sicherstellen, dass das Äußere ihrer Häuser gepflegt ist, über Kinder, die stolz die Kunst bewahren, bis zu Ladenbesitzern die mit Freude Kunstwerke und Bilder ausstellen, die früher in geschlossenen Schränken verstaubten, feiert das gesamte Viertel die Kunst. Selbst beliebte Kaffeehausketten haben ihrem ehemals monotonen Interieur künstlerische Elemente wie holografische Projektionen und individuell gestaltete Souvenir-Boxen hinzugefügt. Durch dieses Viertel wird der Street Art mehr Anerkennung zuteil – Mega-Events wie die India Art Fair organisierten im Februar Rundgänge durch den Bezirk und Galerien repräsentieren jetzt auch Street Artists in ihrem Portfolio.

Der indische Künster Blaise Joseph entschied, ein Porträt einer Mutterfigur herzustellen, das verschiedene Erscheinungsformen annimmt

Das Projekt Was im Jahr 2015 als Experiment an drei Wänden begann, entwickelt sich zu einer Idee: die Menschen hinter dem Projekt, nämlich das NGO St+art (Street+Art) India, erkannten, dass Lodhi Colony alles hatte, was ein Kunstbezirk braucht: großflächige Wände, breite Straßen und einen klaren Grundriss. In 2016 wurde es im Rahmen des Lodhi Art Festival auf 25 Arbeiten ausgeweitet und in 2016 nahm der Art District Form an. In diesem Jahr waren auch internationale Künstler eingeladen, um die Wände zu verschönern. Heute findet man Werke indischer Künstler wie Sajid Wajid, Sameer Kulavoor und Hanif Kureshi sowie internationale Künstler wie unter anderem Daan Botlek aus den Niederlanden, Yok und Sheryo aus Singapur oder Yog Nagao aus Japan. Vor Eröffnung des Festivals wurden Fragebögen an die fast 7.500 Haushalte in dem Viertel verteilt, in denen sie zu den Festlichkeiten eingeladen wurden. Bei der Eröffnung wurde eine spezielle ‚Saath Saath‘-Wand vorgestellt, die von Künstlern und Bewohnern in dem Bemühen bemalt wurde, Kunst wirklich demokratisch zu gestalten und ein Gefühl von Verantwortung und Bürgerstolz zu erzeugen. Alles inklusive Die Gründer von St+art, Arjun Bahl, Akshat Nauriyal, Thanish Thomas, Hanif Qureshi und Giulia Ambrogi, möchten Kunst einem größeren Publikum zugänglich machen. Die Organisation will Kunst aus den konventionellen Orten herausholen und zu einem integralen Teil von Stadtlandschaften machen. „Kunst an öffentlichen Orten macht Menschen stark und ermöglicht ihnen, über das Gewohnte hinaus zu denken. Sie eröffnet einen Dialog zwischen Menschen“, finden sie.

Kinder freuen sich über eine traditionelle Volksmusikaufführung während des Lodhi Art Festivals

Die Zukunft

Die Kunst hält das Ethos der sozialen und kulturellen Kontext-Relevanz hoch, was bedeutet, dass es keine extrem politischen oder religiösen Bilder gibt, und reflektiert auch die Realität, wie beispielsweise die Abholzung der Wälder, den Klimawandel oder die soziale Vielfalt. Außerdem hat die Zusammenarbeit zwischen St+art und Access for All fünf Wände mit taktilen Elementen und spezielle, geführte Rundgänge für sehbehinderte Kinder als Ergebnis hervorgebracht. Das Projekt wird mittlerweile von der Europäischen Union unterstützt. Abzuwarten bleiben der fortwährende Einfluss der öffentlichen Kunst und die Entwicklung multidimensionaler Kooperationen. Der Lodhi Art District ist zweifellos der Aggregator, der diesen Wandel ermöglicht hat, und an der weiteren Entwicklung muss die Öffentlichkeit unbedingt teilhaben.

Shaleen Wadhwana

Shaleen Wadhwana ist eine gefeierte Kunstautorin. Sie hat eine akademische Ausbildung in Kunstgeschichte und Geisteswissenschaften und unterrichtet, unterrichtet und schreibt über Kunst, um das Publikum näher zu bringen.

Patanjali Pundit

Patanjali Pundit, Absolvent der Columbia University und der London School of Economics, ist Historiker, Schriftsteller und Unternehmer.
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