Erbe

Die indische Sprachlandschaft

Heft 04, 2020

Die indische Sprachlandschaft

Sonal Kulkarni-Joshi |Autor

Heft 04, 2020


Indien ist ein Land mit rund 500 verschiedenen Sprachen, wovon die meisten auch heute noch gesprochen werden. Sonal Kulkarni-Joshi erklärt ihre Vielfalt und spürt den uralten weltweiten Verbindungen nach

Indiens Gesellschaft, Kultur, Geschichte und Politik werden fortwährend von der Vielfalt seiner Sprachen geformt. Wie viele Sprachen werden denn nun in Indien gesprochen? Es sind 461 Sprachen, von denen 447 aktiv für die tägliche Kommunikation verwendet werden und 14 ausgestorben sind – sie erfüllen keinerlei Kommunikationsbedarf mehr. Hiervon werden 121 Sprachen von mehr als 10.000 Menschen gesprochen und 22 sind offiziell gemäß der indischen Verfassung anerkannt: Assamesisch, Bengalisch, Bodo, Dogri, Gujarati, Hini, Kannada, Kashmiri, Konkani, Malayalam, Manipuri, Marathi, Maithili, Nepali, Oriya, Punjabi, Sanskrit, Santali, Sindhi, Tamilisch, Telugu und Urdu. Sie werden als ‚planmäßige Sprachen‘ bezeichnet, und gemäß der Volkszählung aus dem Jahr 2011 sprechen 96,72 Prozent der Inder eine davon als Muttersprache. Die meisten Inder (26,6 %) sprechen Hindi, gefolgt von Bangla (7,94 %), Marathi (6,84 %) und Telugu (6,68 %).

Alte tamilische Inschriften am Brihadeeshwara Tempel in Tanjavur

Von den planmäßigen Sprachen ist Hindi als nationale Amtssprache anerkannt, und Englisch wird auf nationaler Ebene als ergänzende Amtssprache verwendet. Nach der Unabhängigkeit folgten mehrere indische Bundesstaaten den linguistischen Vorgaben und machten die meistgesprochene Sprache zu ihrem offiziellen Kommunikationsinstrument. Deswegen gibt es im Gegensatz zu vielen einsprachigen Ländern mit einer einzigen Amtssprache (z.B. Japanisch in Japan, Französisch in Frankreich usw.) nicht diese einzige ‚indische‘ Sprache.

DIE SPRACHFAMILIEN

Sprachen spiegeln die unterschiedliche Geschichte der Bevölkerung des Landes wider. So können Sprachen, genauso wie Menschen, in verschiedene ‚Familien‘ klassifiziert werden, basierend auf ihren genealogischen Ähnlichkeiten. Die wichtigsten Sprachfamilien in Indien sind Indo-Aryan, wozu wichtige Sprachen wie Hindi, Punjabi, Nepali, Marathi, Oriya, Bangla und Axomiya gehören, sowie Stammessprachen wie Bhili und Katkari. Sie stammen über die Prakrits von der klassischen Sanskrit-Sprache ab. In der Gegenwart wird diese Sprachfamilie von Nordwest- bis Nordostindien und in den Ebenen Nordindiens gesprochen. Die dravidische Sprachfamilie beinhaltet vier wichtige literarische Sprachen in Südindien – Tamilisch, Malayalam, Kannada und Telugu – sowie einige Stammessprachen wie Toda in den Nilgiri Bergen und Gondi in Zentralindien. Die Daic-Sprachfamilie in Arunachal Pradesh und in Assam sowie die andamanische Sprachfamilie auf den Andamanen stellen zwei kleinere genealogische Gruppen im Land dar.

GLOBALE VERBINDUNGEN
Interessanterweise stammen alle diese indischen Sprachen von Sprachen aus anderen Teilen der Welt ab: Die indo-aryanischen stehen in historischem Bezug zu europäischen, die vom Lateinischen und Griechischen abstammen. So gesehen, sind Bangla, Hindi, Persisch, Englisch, Deutsch und Niederländisch allesamt entfernte Cousinen. Die Munda- oder austro-asiatischen Sprachen sind genetisch mit denjenigen in Vietnam und Kambodscha verwandt, und die tibeto-burmesischen mit denjenigen in Nepal, Myanmar, Bhutan und China. Zur Munda-Gruppe der austro-asiatischen Sprachen gehören Santali, Mundari, Ho und einige andere, in Zentralindien gesprochene Stammessprachen. Die unterschiedlichen Sprachfamilien sollen zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte auf den indischen Subkontinent gekommen sein – die Vorfahren der Sprecher der großen andamanischen Sprache waren möglicherweise Teil der ersten Migrationsbewegung von Afrika nach Süd- und Südostasien.

Die neue nationale Bildungspolitik (2020) verfolgt das Ziel, regionale/örtliche Sprachen wieder in das Bildungssystem des Landes zu integrieren

DAS GESCHRIEBENE WORT
Sprache ist in Indien auf komplexe Weise mit dem Schreiben verbunden. Nicht alle indischen Sprachen werden schriftlich notiert, auch wenn sie eine reiche mündliche Tradition haben. Die Entwicklung des Schreibens ist hauptsächlich mit der kommerziellen Buchhaltung statt mit religiösen oder sozialen Aktivitäten assoziiert. Devanagari oder Nagari, die moderne Variante, werden verwendet, um Hindi, Marathi, Konkani und Sanskrit zu notieren. Einige indische Sprachen werden in mehr als einer Schrift notiert – Devanagari and Perso-Arabisch für Sindhi; Devanagari, Malayalam, Kannada, Perso-Arabisch und Römisch für Konkani.

Ungeachtet der unterschiedlichen Herkunft leben die Menschen, die die verschiedenen indischen Sprachen sprechen, nicht isoliert voneinander. Im Laufe der Jahrtausende haben sie sich aus sozialen, ökonomischen und anderen Gründen vermischt. Währenddessen wurden ihre Sprachen mit Worten und Konstruktionen aus benachbarten Sprachen angereichert. Derartige Prozesse der Assimilierung und Konvergenz definieren den indischen Faktor in der Vielfalt der Sprachen und zeigen die Einheit, die der linguistischen Diversität zugrunde liegt.

Prof. Malhar Kulkarni und Prof. Ramsubramanian in der Sanskrit-Abteilung der IIT Mumbai. Herausragende Institutionen verfügen über eine Sanskrit-Abteilung, um das Studium der alten indischen Literatur zu erleichtern

Sonal Kulkarni-Joshi

Sonal Kulkarni-Joshi ist Professorin für Linguistik am Deccan College in Pune. Sie erhielt ihren Doktortitel von der Reading University in England. Sie erforscht unter anderem die Veränderungen der Sprache, die Zuordnung von Dialektvarianten, die Diasporasprachen und den Effekt von Migration auf Sprache.
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