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Die indische Verfassung

Heft 06, 2021

Die indische Verfassung

Perspektiven Indien |Autor

Heft 06, 2021


Die indische Verfassung, ein besonderes Dokument mit vielen außergewöhnlichen Merkmalen, ist die weltweit längste schriftliche Verfassung eines souveränen Staates. Der ursprüngliche Text der Verfassung enthielt 395 Artikel in 22 Teilen und acht Anhänge. Sie trat am 26. Januar 1950 in Kraft, an dem Tag, den Indien jedes Jahr als Tag der Republik begeht. Die Anzahl der Artikel hat sich seitdem aufgrund von 100 Gesetzesänderungen auf 448 erhöht.

Die Verfassung wurde von der Verfassungsgebenden Versammlung Indiens erarbeitet, die aus den vom indischen Volk gewählten Mitgliedern der Provinzversammlungen bestand. Dr. Sachidanand Sinha war der erste Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung. Später wurde Dr. Rajendra Prasad zum Präsidenten gewählt. Dr. BR Ambedkar, der Vorsitzende des Redaktionsausschusses, wird als Hauptarchitekt der indischen Verfassung betrachtet, die ein umfassendes und dynamisches Rahmenwerk darstellt, um das Land zu führen und zu regieren und dabei seine soziale, kulturelle und religiöse Vielfalt im Auge behält. Sie legt die wichtigsten Organe fest – Exekutive, Legislative und Judikative –, definiert deren Befugnisse und Verantwortung und reguliert deren Beziehungen zueinander. Unter anderem legt sie die grundlegende Regierungsstruktur und das Verhältnis zwischen Regierung und Volk fest. Auch die Rechte und Pflichten der Bürger werden dargelegt. Die Verfassung gilt für den Bundesstaat Jammu und Kashmir mit gewissen Ausnahmen und Modifikationen, wie in Artikel 370 und in der Verfassung (Anwendung für Jammu und Kashmir) von 1954 definiert. Sie ist die Mutter aller anderen Gesetze des Landes. Jedes von der Regierung in Kraft gesetzte Gesetz muss mit der Verfassung übereinstimmen.

Laut der Präambel der Verfassung ist Indien eine Souveräne Sozialistische Säkulare Demokratische Republik und ein Sozialstaat, der verpflichtet ist, Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit für die Bürger sicherzustellen und die Brüderlichkeit, die Würde des Einzelnen und die Einheit und Integrität der Nation zu fördern. Die in der Präambel spezifizierten Ziele bilden die grundlegende Struktur der indischen Verfassung, zu der es keine Zusätze geben kann. Die ersten und letzten Sätze der Präambel: „Wir, das Volk… verabschieden, erlassen und geben uns diese Verfassung“ bedeuten, dass die Macht ultimativ in den Händen des Volkes liegt.

Obwohl Artikel 1 der Verfassung besagt, dass Indien eine Staatenunion sein soll, legt die Verfassung eine föderale Struktur mit klarer Gewaltenteilung zwischen Zentralstaat und Bundesstaaten fest, wobei jeder Bundesstaat das verfassungsmäßige Recht hat, innerhalb seines Aktionsrahmens zu handeln und Gesetze zu erlassen. Der siebte Anhang enthält drei Legislativlaufstellungen mit administrativen Bereichen, nämlich Unions-, Bundesstaats- und übereinstimmende Legislativaufstellungen. Die Zentralregierung hat die exklusive Macht bei der Gesetzgebung zu den Themen, die in der Unionsliste aufgeführt sind. Die Bundesstaatsregierungen haben die volle Autorität bei der Gesetzgebung zu den Themen, die in der Bundesstaatsliste aufgeführt sind. Und sowohl Zentralstaat wie auch Bundesstaaten sind zuständig für die Gesetzgebung bei Themen, die in der übereinstimmenden Aufstellung aufgeführt sind, wobei die Zentralregierung mit mehr Macht ausgestattet ist. Man kann sagen, dass Indien einen kooperativen Föderalismus verfolgt. Die Verfassung legt eine parlamentarische Regierungsform fest, mit einer Zweikammer-Legislative des Zentralstaats, die aus der Lok Sabha (Unterhaus des Parlaments) und der Rajya Sabha (Oberhaus des Parlaments) besteht. Während die Lok Sabha aus den gewählten Volksvertretern besteht, sitzen in der Rajya Sabha Vertreter, die von den gesetzgebenden Versammlungen der Bundesstaaten gewählt wurden. Der Präsident ist der symbolische Staats- und Parlamentschef. In der Praxis führt aber der Premierminister, unterstützt durch den Ministerrat, die Exekutive und ist für die Regierung verantwortlich.

Eine objektive Judikative, unabhängig von Legislative und Exekutive, ist eines der Hauptmerkmale der Verfassung. Der Oberste Gerichtshof von Indien ist der höchste Gerichtshof des Landes und fungiert als Wächter der Verfassung und als letzte Berufungsinstanz. Jeder Bundesstaat hat ein Schwurgericht als oberstes Gericht. Im Rahmen des Rechtswegs können der Oberste Gerichtshof und das Schwurgericht ein Gesetz für nicht verfassungsgemäß erklären oder als über die Befugnisse hinausgehend, wenn es irgendeiner Festlegung der Verfassung widerspricht. Dieser Rechtsweg bildet den Mittelweg zwischen der amerikanischen gerichtlichen Obergewalt auf der einen Seite und der britischen Parlaments-Vorrangstellung auf der anderen. Um die Unverletzbarkeit der Judikative zu garantieren, werden die Richter in einem Prozess ernannt, der nicht von der Exekutive beeinflusst werden kann. Die Richter können nur durch ein strenges Amtsenthebungsverfahren entfernt werden, das von beiden Häusern des Parlaments gebilligt werden muss.

Die Verfassung verleiht den Bürgern viele grundlegende Rechte. Diese sind (i) das Recht auf Gleichheit, (ii) das Recht auf Freiheit, (iii) das Recht gegen Ausbeutung, (iv) das Recht auf Religionsfreiheit, (v) Kultur- und Bildungsrechte und (vi) das Recht auf Rechtsmittel. Diese Rechte sind einklagbar, und eine Einzelperson kann den Obersten Gerichtshof oder das Schwurgericht anrufen, wenn es eine Verletzung eines dieser Rechte gibt. Die grundlegenden Rechte sind in Indien jedoch nicht absolut. Es können sinnvolle Einschränkungen auferlegt werden. Durch den 42. Zusatz im Jahr 1976 wurden zu der Verfassung grundlegende Pflichten hinzugefügt, um das Volk daran zu erinnern, dass zum Genuss der Bürgerrechte auch die Ausübung der Bürgerpflichten gehört.

Ein weiterer neuer Bestandteil der Verfassung ist, dass sie ein Kapitel über die Leitfunktion der staatlichen Politik enthält, das im Prinzip eine Regierungsanweisung darstellt, um für soziale und wirtschaftliche Demokratie im Land zu sorgen. Auch wenn diese Prinzipien nicht einklagbar sind, werden sie als fundamental für die Regierung des Landes betrachtet.

Es gibt viele autonome Institutionen, die im Rahmen der Verfassung eingerichtet wurden und eine wichtige Rolle spielen, wie z.B. die Wahlkommission (verantwortlich für das Abhalten freier und gerechter Wahlen), die Kommission für den öffentlichen Dienst (verantwortlich für die Auswahl der wichtigsten Regierungsdienstleistungen) und einen Generalrechnungsprüfer (für die unabhängige Überprüfung der Abrechnungen der Regierung und ihrer Behörden).

Eine der Stärken der Verfassung ist, dass sie ein dynamisches Instrument ist, das mit der Zeit, entweder durch Auslegung oder Änderung, weiterentwickelt werden kann. Auf dem Papier ist eine Verfassungsänderung eine schwierige Angelegenheit und die Verabschiedung erfordert normalerweise mindestens eine Zweidrittelmehrheit in Lok Sabha und Rajya Sabha. Die indische Verfassung ist jedoch eine der am häufigsten geänderten Verfassungen der Welt, um dem Wachstum und der Entwicklung der Nation und des Volks nicht im Weg zu stehen.
Der Erfolg dieser Verfassung für ein Land, das so vielfältig und komplex ist wie Indien, fasziniert, beeindruckt und inspiriert immer noch Fachleute in aller Welt.

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