Die vergessene Webtechnik
Es ähnelt der Suche nach dem Heiligen Gral, aber es handelt sich um eine seltene Handwebkunst aus Indien: Khun oder Khana. Traditionell wurde dieser handgewebte, leichte Baumwoll- oder sogar Baumwoll-Seidenstoff von Frauen in Nord-Karnataka und einig...
Es ähnelt der Suche nach dem Heiligen Gral, aber es handelt sich um eine seltene Handwebkunst aus Indien: Khun oder Khana. Traditionell wurde dieser handgewebte, leichte Baumwoll- oder sogar Baumwoll-Seidenstoff von Frauen in Nord-Karnataka und einigen Teilen Marathwadas und Vidharbhas in Maharashtra getragen. Ravike oder Choli (Blusen) werden bestickt und mit Ilkal-Saris aus derselben Region kombiniert. Das raffinierte Brokatmuster ist 4.000 Jahre alt und übersät mit kleinen, zarten Motiven. Einst war es beliebt bei Frauen in den Dörfern der Region, aber im Lauf der Jahrhunderte und aufgrund der zahlreichen maschinellen Webstühle war der ursprüngliche handgewebte Stoff fast verschwunden, nicht mehr beachtet und dabei, einen langsamen Tod zu sterben. Zu diesem Zeitpunkt sah die Modedesignerin Vaishali Shadangule aus Mumbai zufällig den Stoff und machte sich daran, ihn neu zu entdecken. „Niemand auf den Märkten in Mumbai oder Pune hatte den Stoff je gesehen, der ein ganz besonderes Brokatmuster aufweist, ähnlich wie Banarasi. Er schien quasi verschwunden“, erklärt Shadangule. Nach einigen Nachforschungen stieß sie im Jahr 2012 auf Guledgudda, ein kleines, unscheinbares Dorf im Distrikt Bagalkot in Karnataka, den Heimatort des Khun. Guledgudda war einst florierendes Zentrum der Handwebtechnik – jeder Haushalt hatte seinen eigenen Webstuhl und jedes Familienmitglied war in das Weben der Stoffe involviert. Es gibt zwar keine eindeutigen historischen Belege über den Ursprung, aber der Legende nach lag dieser im 8. Jahrhundert, als die Chalukya-Dynastie in der Region an der Macht war. Die Weber in diesem Dorf sollen damit angefangen haben, den typischen Stoff als Zubehör zu Ilkal-Saris zu weben. Dieser soll bei religiösen Festen zu Dreiecken gefaltet, auf einem Sari platziert und den Göttern angeboten worden sein. Manche sind der Ansicht, dass der Name Khana oder Khun von der Falttechnik des Stoffs in kleine Quadrate stammt. Die einzigartigen Motive entstammen der Natur und der Mythologie.

Leider hat Khun genauso wie die meisten uralten Traditionen an Relevanz verloren. Die traditionellen Muster waren fast verloren gegangen und die Generation echter Weber beinahe verschwunden, wobei die wenigen verbliebenen auf maschinelle Webstühle umgestiegen waren. „Als ich das Dorf zum ersten Mal vor ungefähr fünf Jahren besuchte, gab es rund 500 Handwebstühle“, ein drastischer Rückgang von den 4.000 Stück noch vor wenigen Jahrzehnten. „Ich war in New York und kehrte nach langer Zeit wieder nach Indien zurück. Ich stellte fest, dass der Stoff immer noch vergessen war. Jeder sprach über Chanderi, Banarasi, Maheshwari, aber keiner kannte Khun“, erzählt sie. Sie war entschlossen, dem Stoff zu einem Comeback zu verhelfen und kehrte nach Guledgudda zurück. Zu ihrem Entsetzen fand sie noch einen einzigen funktionsfähigen Webstuhl. Sie machte sich an die Arbeit und nahm 50 Webstühle wieder in Betrieb. Sie setzte sich mit den Webern zusammen, um einen Plan auszuhecken, wie man dem Stoff wieder bei einem weltweiten, urbanen Publikum zur Beliebtheit verhelfen könnte. „Es ist eine raffinierte Brokatwebetechnik und ein sehr leichter Stoff“, erklärt Shadangule und fügt hinzu, dass sie Khun in seinem aktuellen Zustand präsentieren wollte und daher die modernen Farben verwendete, die die Weber auf dem Webstuhl nutzen. „Wenn man in irgendein Dorf fährt, sind die Menschen so auf dem Laufenden, dass sie nicht einfach einem Trend folgen und dennoch mit der Natur verbunden sind. Deswegen gibt es Grüntöne, Metallic-Schattierungen, Kombinationen mit Wein-, Senf- und fluoreszierenden Grünschattierungen“, sagt sie.

Shadangule erklärt den mühevollen Webevorgang so: „Wenn man nur an einer Stelle des Stoffs die Farbe verändert, muss der Weber 4.000 Garne auf dem Webstuhl von Hand verbinden, und diesen Vorgang abzuschließen dauert einen ganzen Tag. Die notwendige Zeit bleibt gleich, aber der Verdienst hat sich mehr als halbiert, denn ein Weber verdient nur 400 Rs pro Tag!“ Raju, 40 Jahre alt, der seit 15 Jahren Khun webt, ist der Chefweber der Designerin. Er schildert, dass in besseren Zeiten 50.000 Menschen in dem Dorf an Webstühlen arbeiteten. „Sie waren mit Färben und Weben beschäftigt, organisierten das Rohmaterial und fügten die Stoffteile zusammen.“ Heute, meint er, üben die wenigen Familien dieses Kunsthandwerk aus Leidenschaft und nicht wegen des Geldes aus. „Khun ist so eine wunderbare und kunstvolle Webtechnik und kann nur in diesem Dorf hergestellt werden. Es ist eine Tradition, kein lebloses Objekt. Sie wird vom Klima, den Motiven, dem Alltagsleben und sogar von der Umgebung des Dorfs beeinflusst“, erklärt die Designerin, die zuvor mit Chanderi- und Paithani-Webtechnik gearbeitet hat. In 2012 und 2014 präsentierte sie zwei Design-Kollektionen, die auf Khun basierten, bei Modenschauen in Italien. Die positiven Reaktionen ermutigten sie, eine weitere Kollektion mit modernen Stücken zu erschaffen, die in 2018 auf der India Fashion Week in Delhi gezeigt wurde – der renommiertesten Modenschau des Landes. „Meine Idee für ein Comeback ist, die Seele und Funktionalität des Stoffs zu bewahren und ihn nur auf ein modernes Publikum zuzuschneiden. Die Menschen lieben das luxuriöse Gefühl des Stoffs auf der Haut und den Glanz auf der Außenseite.“ In ihrer neuesten Kollektion erweiterte sie die traditionelle Farbpalette und kombinierte die ursprünglichen Orange-, Grün- und Pinktöne mit Bronze, Gold und Grau. Im Juni dieses Jahres zeigt die Designerin eine Khun-Kollektion mit 40 Teilen in Neu York und dann eine 45-teilige Linie einschließlich Kleidern und Jacken auf der weltweit berühmten New York Fashion Week. Darüber hinaus plant sie mit diesem wunderschönen Stoff eine indische Brautmodenschau – ihre allererste – im Juli in Indien. „Ich versuche einfach das zu nehmen, was die Weber herstellen, und sichere ihnen zu, ihnen eine bestimmte Summe im Monat zu zahlen. Ich habe die Qualität des Stoffs verbessert und die Designs modernisiert, aber mein oberstes Ziel ist es, das Handwerk für die Dorfbewohner wieder lukrativ zu gestalten.“

Eine weitere Schwierigkeit für das Comeback von Khun ist, dass die traditionellen Webstühle für Blusenstoffe zu klein sind. Shadangule stellt gerade eine Gruppe aus Khun-Webern aus Guledgudda zusammen, die auf größeren Webstühlen größere Stücke herstellen können, die in kommerzieller und kreativer Hinsicht geeignet sind. Außerdem plant sie eine Diversifizierung, um Khun neben ihren Kollektionen auch für Einrichtungsgegenstände und Deko-Objekte zu verwenden. Shadangule erklärt, dass ihr Beitrag sehr klein ist und mehr Menschen auf diesen magischen Stoff aufmerksam werden müssen: „Wir müssen die harte Arbeit eines Webers anerkennen, der stundenlang am Webstuhl sitzt, um einen Sari herzustellen, was bis zu vier Monaten dauern kann. Dies ist ein Kunstwerk und nicht nur ein Stück Stoff. Nur wenn die Arbeit dem Weber und seiner Familie Geld und Anerkennung einbringt, wird die kommende Generation die Tradition fortführen.“ Ihre Anstrengungen scheinen den Webern im Dorf Guledgudda Hoffnung zu machen, wie Raju zusammenfasst: „Ich arbeite wieder gerne am Webstuhl. Wenn ich die wunderschönen Kleidungsstücke sehe, die aus dem Stoff, den ich webe, erschaffen und in aller Welt gezeigt werden, bin ich stolz. Es motiviert mich, den Webstuhl und das Handwerk zu bewahren und an meine Kinder weiterzugeben.“