Kunst

Substanzielle Kunst

Heft 03, 2019

Substanzielle Kunst

Georgina Maddox |Autor

Heft 03, 2019


Der indische Pavillon auf der 58. Biennale von Venedig wurde unter die besten zehn gewählt, was bekräftigt, dass das Land eine internationale Kraft ist, mit der auf dem Feld der zeitgenössischen Kreativität zu rechnen ist

Mahatma Gandhi reiste niemals nach Venedig. Nicht bis zum Jahr 2019, als indische Künstler mit Arbeiten, die von Gandhis Philosophie des Friedens und der Gewaltfreiheit geprägt waren, in die zeitlos romantische italienische Stadt kamen. Nach achtjähriger Nichtanwesenheit wird Indiens diesjähriger Beitrag zur Biennale von Venedig, der weltweit größten und angesehensten Kunstausstellung, nicht nur wegen der kreativen Gedanken, sondern auch deswegen gefeiert, weil er thematisch auf Gandhis Philosophie basiert. Die Tatsache, das er von der Financial Times und der führenden Kunst-Website artsy.net aus 90 Ländern neben den USA, der Schweiz, Polen und dem Neuling Ghana unter die besten zehn Pavillons gewählt wurde, sagt viel über die Kreativität Indiens aus, die sich auf Gandhis Gedanken stützt.

In dem offiziellen indischen Pavillon auf der 58. Biennale von Venedig (noch bis zum 24. November) stellen acht indische Künstler aus, darunter Nandalal Bose, MF Husain, Jitish Kallat und Atul Dodiya. Abgesehen davon sind moderne Künstler wie Gauri Gill, Shilpa Gupta und Soham Gupta, die für ihre Arbeiten weltweit von der Kritik gefeiert werden, in der Hauptausstellung der Biennale vertreten, die von Ralph Rugoff kuratiert wurde, einem amerikanischen Kurator und dem Mann hinter der Auflage aus 2019. Indien feiert in 2011 mit einem nationalen Pavillon sein Debut bei der Biennale, fast 116 Jahre nach der ersten Auflage! In 1931 hatte Gandhi Rom besucht und in einem Brief an einen Freund geschrieben, dass er Mussolini (den italienischen Premierminister Benito Mussolini) rätselhaft fand. Gandhi schrieb in einem Brief ebenfalls über Adolf Hitler. Genau diesen Teil der Geschichte erweckt der Künstler Jitish Kallat mit seiner immersiven Installation Covering Letter zum Leben, einem der wichtigsten Ausstellungsstücke des indischen Pavillons auf der Biennale von Venedig. Der Brief entfaltet sich und wird auf einen dunstigen Bildschirm projiziert, auf dem Gandhis hingekritzelte Worte und Unterschrift erscheinen, wodurch der Betrachter zum Zeitzeugen wird.

GR Iranna posiert mit seinem Kunstwerk, auf dem Hunderte Padukas oder heilige Slipper abgebildet sind. Padukas werden von Mönchen und anderen heiligen Akolythen getragen und stehen für die Prinzipien des Friedens und der Gewaltlosigkeit

Der indische Pavillon ist das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen der National Gallery of Modern Art, die als Beauftragte fungierte, und des Kulturministeriums der indischen Regierung mit der Confederation of Indian Industry (CII) als Partner. Er wurde von Roobina Karode kuratiert, der Chefkuratorin des Kiran Nadar Museaum of Art (KNMA). „Ich habe die Ausstellung nicht als exakte Darstellung Gandhis in einem dokumentarähnlichen Format oder durch seine Wiedererweckung aus den Archiven empfunden“, mein Karode und fügt hinzu: „Gandhis Bild / Präsenz ist zeitlich und räumlich nicht festgelegt. Er kehrt in krisenhaften oder verzweifelten Zeiten immer wieder ins öffentliche Bewusstsein zurück. Er ist kein Subjekt, das nur im Gefühl oder in der Nostalgie verhaftet bleibt, sondern eher eines der modernen Reflektion. Ich hatte eher die Neigung, Aspekte seiner Praxis zu betrachten. Und auch die Ideen zu Handwerk, der Würde der Arbeit und der Betonung der Eigenständigkeit.“

Ein Besucher fotografiert die Installation der Künstlerin Shakuntala Kulkarni auf der Biennale in Venedig. Die Arbeit ohne Titel umfasst zwei Zuckerrohrskulpturen, sieben Fotos und Teile aus dem Projekt ‚Of Bodies, cages and armours‘. Dieses Werk steht in Verbindung mit Gandhis Bambusbühnenpodest, von dem aus er zu den Menschen sprach

Indiens Teilnahme an der diesjährigen Biennale ist eine willkommene Unterstützung und fungiert als Anreiz für die indische Kunstszene, die Indiens sporadische Präsenz bei globalen Kunstereignissen seit langem beklagt hat. „Es sind aufregende Zeiten für Indien, das in internationalen Museen wie dem MET Breuer in New York vertreten ist oder auf der Documenta, einer Ausstellung für moderne Kunst, die alle fünf Jahre in Kassel, Deutschland, stattfindet, und jetzt bei der Biennale in Venedig“, erklärt Shanay Jhaveri, der assistierende Kurator der Südostasiatischen Sektion im New Yorker Metropolitan Museum of Art (MET). Jhaveri hat über indische Künstler promoviert, und die MET zeigte eine Retrospektive der verstorbenen indischen Künstlerin Nasreen Mohamedi und derzeit außerdem eine Einzelausstellung der Bildhauerin Mrinalini Mukherjee.

Ein Besucher betrachtet die Installation des Künstlers Jitish Kallat in einem abgedunkelten Raum auf der Biennale in Venedig. Die Installation mit dem Titel Covering Letter zeigt einen Brief, den Mahatma Gandhi im Juli 1939 an Adolf Hitler schrieb, Wochen vor dem Einmarsch der Deutschen in Polen, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markierte. In dem Brief appellierte Gandhi an Hitlers Friedensbereitschaft und drängte ihn, der „Reduzierung der Menschlichkeit auf den barbarischen Zustand“ zu widerstehen

Da es in der Vergangenheit bislang nur einen indischen Pavillon gab, hat das Kuratorenteam sich viele Gedanken über eine substanzielle Präsentation der acht indischen Künstler auf einer Fläche von 530 qm gemacht. „Wir haben die Fläche geöffnet, damit sie frei fließen kann und durch die ausgestellten Arbeiten eine Resonanz erzeugt wird, was für eine meditative Stimmung des Pavillons sorgt, um innezuhalten und zu reflektieren. Ich habe mich gegen eine symmetrische Aufteilung der Fläche entschieden, denn ich wollte mehr ungewöhnliche Kanten und unübliche Begegnungen“, so Karode.

Jitish Kallat erzählt die Geschichte hinter seinem Werk Covering Letter. „Jeder Besucher bringt andere persönliche, soziale und historische Erfahrungen in die Arbeit ein und verändert so in gewisser Weise seine Bedeutung“, erläutert Kallat. Covering Letter beschäftigt sich, ganz ähnlich wie seine drei Public Notice Arbeiten, mit einem geschichtlichen Vorgang, durch den die Gegenwart neu definiert werden könnte. Er erklärt uns, dass die Arbeit aus einer historischen Korrespondenz besteht, die auf einen Vorhang aus begehbarem Trockennebel gebeamt wird; ein kurzer Brief, den Gandhi im Jahr 1939 an Adolf Hitler schrieb, in dem er den deutschen Führer drängt, seine Mittel der Gewalt zu überdenken. „Man ist perplex, wie Gandhi seine Worte wählt, als wichtigster Verfechter des Friedens in einem historischen Moment“, meint Kallat nachdenklich. „Wie viele von Gandhis Gesten und Lebensexperimenten scheint diese Korrespondenz wie ein offener Brief zu sein, der über sein Absendedatum und den Empfänger hinausgeht – ein Brief, der an jeden, jederzeit und überall geschrieben werden könnte“, schließt er.

Karode und ihr Kuratorenteam wählten Broken Branches von Atul Dodiya aus, weil es eine „universelle Saite“ zum Klingen bringt und sich um den Dialog über Gewalt dreht. „Es ist vielleicht traurig, dass diese Arbeit von mir heute immer noch relevant ist und die Gewalt weitergeht“, so Dodiya. Die Installation besteht aus neun Holzschränken mit handbemalten gerahmten Fotos, Gelenkprothesen, Werkzeugen, gefundenen Gegenständen und anderen Erinnerungsstücken.

In ähnlicher Weise greift der Künstler GR Iranna seine Arbeit aus 2010 wieder auf, die sich um Padukas oder heilige Schlappen dreht. „Die Installation trägt den Titel Naava, ein Kannada-Wort, das im Englischen für gemeinsam steht. Es ist ein Symbol dafür, dass wir alle vereint sind und solidarisch für eine Sache einstehen“, so Iranna. Die Arbeit enthält Hunderte Padukas, die auf einem Haufen dargestellt und auch an der Wand befestigt sind, als ob Menschen durch Wände und Decken gehen. In Indien werden Padukas von Mönchen und anderen heiligen Akolythen getragen und reflektieren das Prinzip von Frieden und Gewaltlosigkeit. An jedem Schuh ist ein kleines Objekt befestigt, das für einen Beruf oder eine Religion steht, wie beispielsweise eine Schere. „Dies steht für ihre Individualität und zeigt, dass wir, auch wenn wir zusammen sind, dennoch unsere einzigartige Identität bewahren“, meint Iranna. Sandkörner an den Padukas zeigen, dass die Schuhe von Menschen getragen wurden, die in der Nähe des Meers lebten, und dies erinnert an Gandhis Marsch nach Dandi, um gegen eine drakonische Regel zu protestierten, die Britisch-Indien erlassen hatte.

Die verstorbene Rummana Hussain wird durch eines ihrer wichtigsten Werke repräsentiert: Fragments. Es besteht aus einem zerbrochenen Topf oder „Grab“ und dreht sich um Verlust und Stille, offengelegt auf Spiegeln. Der Name Husain ist auch noch durch Maqbool Fida Husain und sein Bild Zameen vertreten. Ein historisches Werk, das die Gedanken über die synkretische Natur der indischen Vergangenheit zusammenträgt.

Der Pavillon ist sogar noch bedeutsamer, weil Indien im letzten Jahr Gandhis 150. Geburtstag feierte und seine Philosophie in der heutigen gewalttätigen Welt weiter relevant scheint. „Die Ausstellung versucht, die Relevanz von Gandhis Werten in der heutigen Welt zu bewerten“, meint Karode, und weiter: „Es ist bedauerlich, aber wahr, dass wir selbst heute noch seine Experimente mit der Wahrheit zur Orientierung brauchen!“

Georgina Maddox

Georgina Maddox ist führende Kunstpublizistin und Kuratorin, die in verschiedene visuelle Kunstprojekte involviert ist. Derzeit arbeitet sie als leitende Redaktionsassistentin bei The Indian Express.
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