Kunst Erbe

Musik für das neue Jahrzehnt

Heft 01, 2020

Musik für das neue Jahrzehnt

Vineyak Surya Swami |Autor

Heft 01, 2020


Vom schwungvollen Bhangra-Rhythmus bis zu den beruhigenden Klängen der Sopana Sangeetham aus Kerala hat Musik im indischen Kulturerbe schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Die Musikregisseurin Sneha Khanwalkar erklärt, wie diese reiche Geschichte in ihren Augen auch die heutige Musik beeinflusst. Vinayak Surya Swami fasst es für uns zusammen.

Das Rütteln eines regionalen Zuges, das Heulen des Verkehrs, das Geräusch von hustenden oder niesenden Menschen oder sogar das Klingeln eines Handys… Um uns herum entstehen ständig Melodien. In Indien wurde Musik immer von unserer Umgebung inspiriert, sei es durch natürlich oder von Menschen erzeugte Geräusche. Von unserer Volksmusiktradition bis zu klassischen Ragas und von Musikinstrumenten, gespielt von Musikern auf dem Land, bis zu musikalischen Erzählungen, die zu unserem Erbe gehören: die indische Musik basiert traditionell auf den Geräuschen des Lebens.

Nachdem sich die Musik in Indien heute ebenso wie alles andere wandelt, ist es umso wichtiger, in unsere uralten Melodien einzutauchen, um ein Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. In meiner Jugend bin ich morgens mit dem Klang einer Tanpura aufgewacht. Als ich im Lauf der Jahre meine Ausbildung machte und mehr über Musik lernte, verstand ich, dass jedes Objekt um uns herum einen ganz eigenen Klang hat und all das notwendig ist, um die richtigen Melodiegruppen zu finden.

DER RICHTIGE BEGINN

Diese Vorstellung, Musik in der Atmosphäre zu finden, definierte meine Bemühungen, als ich begann, Musik zu machen: ich wollte, dass alles Hörbare ein Bestandteil davon ist. Jeder Klang repräsentierte einen anderen Teil des Tracks, ein anderes Gefühl, und ich glaube, ich wollte nicht zuletzt, dass mein Prozess der Musikerschaffung demokratisch ist! Mein Lied „Kaala Re“ aus dem Film Gangs of Wasseypur 2, der in der Kohlebergbauindustrie spielt, beginnt mit dem Geräusch einer Spitzhacke, die Kohle zerschlägt. Ich hatte das Geräusch in einer Fabrik aufgenommen, in der Metallketten aneinanderschlugen. In der indischen Musikgeschichte gibt es verschiedene ähnliche Beispiele von Alltagsgeräuschen und gedankeninspirierenden Noten. Heutzutage entdecken einige junge Musiker in Indien diese Denkweise wieder. Die neuen Pioniere der indischen Musik haben sich nicht nur für eine völlig neue Richtung entschieden, sondern haben entdeckt, dass diese Richtung von der Idee der Traditionen aus dem ganzen Land entstammt.

Buddhistische Mönche bei einer rituellen Musikaufführung mit traditionellen Trommeln und Trompeten während des Gustor Klosterfestivals im Kloster Lamayuru in Leh

WEITERGEFASSTE GRENZEN

Wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass es das, was heute als „alternative Musik“ bezeichnet wird, schon häufig in den ältesten Volksmusiktraditionen des Landes gab. So fügen indische Trommeln beispielsweise der Musik einen treibenden Beat und eine rohe, natürliche Atmosphäre hinzu, was die meisten modernen Musik-Labels heute auch integrieren. Ein Beispiel ist die Manganiyar-Gemeinschaft aus Rajasthan, die der Legende nach das Einsetzen des Regens in dem Wüstenstaat beschleunigen sollte. Man sagt, dass ihre Musik, begleitet von der Dhol (einer zweiseitigen Trommel) und Khartaal (zwei Holzblöcken, mit denen die Musiker ein laut klapperndes Geräusch erzeugen) das Geräusch des Donners imitierte und auf diese Weise den Regengott erfreute.

Ein weiteres Beispiel ist Bhatiyali aus Westbengalen. Bhatiyali ist auch als Lied der Bootsleute bekannt und wird meist solo und fast ohne musikalische Begleitung gesungen. Experten meinen, dass der Flusscharakter der Region, aus der diese Volksmusik stammt, ihre Struktur geformt hat. Genau wie ein dahinströmender Fluss erzeugt Bhatiyali eine beschwingte Stimmung, die Noten steigen rhythmisch an und fallen, genauso wie das Wasser verebbt. Volksmusik wird auch als Vermischung von Natur und Klang und als Reaktion der Menschen auf ihre Umgebung definiert. Die Noten in der Musik aus den Bergen sind beispielsweise höher und durchqueren quasi Berge und Täler. Im Vergleich dazu singen die Gemeinschaften, die in den bewaldeten Gegenden in der Ebene leben, tiefer und erzeugen eine gedämpftere Stimmung. Genau dies versuche ich in meiner Musik zu erfassen.

Mitglieder des Maria-Stamms aus Bastar, Chhattisgarh, bei einer traditionellen Tanzvorführung

DIE ZUKUNFT  

Der erste Schritt, um die Melodien der indischen Volksmusik an die heutigen Klänge anzupassen, ist, hinaus in die Natur zu gehen, wo diese Melodien entstanden und auch heute noch praktiziert werden.

Um andere Medien auszuprobieren und eine bisher nie gehörte Kombination aus Klängen zu erschaffen, beschloss ich, hinauszugehen und die fast schon mystischen und vielfältigen musikalischen Angebote der Landschaft zu erleben. Wenn ich versuche, Volksmusik in das Mainstream-Kino zu integrieren, muss ich die gesamte Kultur, den Lebensstil, die Denkprozesse, Essgewohnheiten, Politik, Geschichte und alles, wofür dies steht, über die Musik einführen – was ich mit dem Lied „Oh Womaniya“ aus dem Film Gangs of Wasseypur tat. Um den Song rustikal und roh wirken zu lassen, wählte ich dafür Hausfrauen aus Bihar aus, wo der Film spielt. Ebenso entschied ich mich für den berühmten Volksmusiker Des Raj Lakhani aus Punjab als Interpret des Liedes „Jugni“ in dem Film Oye Lucky Lucky Oye, um den authentischen Akzent der Region zu bewahren. Für eines meiner neuen Klangexperimente auf dem Serendipity Art Festival 2019 erschuf ich die Klanginstallation „Winds of Change“. Die Betrachter wurden gebeten, auf das Objekt zu pusten, das sich im Wind drehte und Klänge und Vibrationen übertrug. Nachdem sich die Leute dann mehr mit der Installation beschäftigten, pusteten sie stärker oder schwächer, je nach Stimmung, und sendeten verschiedene Signale aus!

Heute konzentrieren sich die meisten alternativen Musiker darauf, gleichwertigere Chancen für Zuhörer wie Künstler zu schaffen, und suchen in der Vergangenheit nach Inspirationen. Ich bin hoffnungsvoll, was den Wandel in der Mainstream-Musikbranche hin zu dezentraleren Musikformen angeht, die Raum für konstantes Experimentieren lassen. Ich denke, wir müssen tiefer in die Traditionen eintauchen, um die indische Musik der Zukunft zu erschaffen.

Vineyak Surya Swami

Vinayak Surya Swami ist Journalist aus Delhi. Er hat einen Abschluss in Maschinenbau und war Schiffsbau-Auszubildender bei der indischen Marine. Er ist schon seit seinen Teenagerjahren Teilzeitschriftsteller und wechselte ins Journalismusfach, um seine Liebe zum Schreiben und Reisen auszuleben.
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