Traditionsreiche Stiche
Parsi Gara ist eine einzigartige Sticktradition, die von der zoroastrischen Gemeinschaft in Indien gepflegt wird. Saris, die mit dieser von der Pflanzen- und Tierwelt inspirierten Kunst verziert sind, gelten heutzutage als Erbstücke, und das Handwerk erlebt ein Revival, erklärt der preisgekrönte Textildesigner Ashdeen Z. Lolaowala
Die meisten Menschen sind überwältigt von der Schönheit, Raffinesse und Handwerkskunst, wenn sie die realistischen, von der Natur inspirierten Muster der Parsi Gara-Stickerei erstmals sehen. Allerdings lässt sie sich keiner geografischen, kulturellen oder ethnischen Identität zuordnen. Der Grund hierfür liegt in der Entstehungsweise von Parsi Gara, die die Entwicklung der zoroastrischen Gemeinschaft in Indien widerspiegelt. Parsis sind Zoroastrier, die im 7. Jahrhundert n. Chr. von Persien nach Indien zogen. Die kleine Gemeinschaft kam in Gujarat an und ließ sich an der Westküste Indien nieder. Die Parsi Gara-Stickerei ist ein Nebenprodukt des Handels und der Reisen der Gemeinschaft – eine Verschmelzung von Textiltraditionen aus aller Welt.
Die Entstehungsgeschichte
Im frühen 19. Jahrhundert hatten Parsi-Händler angefangen, in den Fernen Osten zu reisen und mit China und Hongkong Handel zu treiben. Sie transportierten Opium und Baumwolle aus Indien, was sie in China gegen Tee eintauschten. Bei ihrer Rückkehr auf dem Seeweg brachten sie wunderschöne chinesische Artefakte mit, darunter die begehrtesten bestickten Textilien. Der Legende nach war ein Parsi-Händler in Kanton so begeistert vom Anblick der Handwerker, die realitätsgetreue Darstellungen der Flora und Fauna auf Stoffe stickten, dass er den Auftrag gab, das Muster auf fünf Meter Seide zu sticken, die er seiner Frau in Indien als Sari mitbrachte. Ursprünglich waren die verzierten Stoffe aus China komplett von Rand zu Rand mit Mustern bestickt. Allmählich jedoch wurde das Design der Form von Saris angepasst, mit Rändern und freibleibenden Stellen, um diese passend zu falten. Zunehmend lernten auch Parsi-Frauen in Indien die Sticktechnik, und indische Motive, Farben und Nuancen flossen in die Gara-Gestaltung mit ein. Die Parsi-Gemeinschaft, die sich in Bombay (heute Mumbai) niedergelassen hatte, war zu Wohlstand gekommen und hatte den Wunsch, dass sich dies in ihrer Kleidung widerspiegelte. Aus diesem Grunde wählten sie Garas als ihre Volkstracht aus.
Einzigartige Ästhetik
Zum traditionellen Parsi Gara-Design gehören das beliebte Kanda Papeta (Zwiebeln und Kartoffeln), Margha Marghi (Hahn und Henne) sowie Cheena Cheeni, eine Reihe von Motiven aus dem chinesischen Reich, darunter Pagoden, Drachen, Männer und Frauen. Bestimmte Flora- und Fauna-Motive, die die Ehrfurcht der Zoroastrier vor der Natur repräsentieren, sind ebenfalls beliebt. Hierzu gehören Pfingstrosen, Rosen, Chrysanthemen und Lotusblüten, die in Form von Reben, Holzgittern und üppigen Gärten dargestellt werden. Auch Bambusmotive, entliehen von chinesischen Mustern, werden gerne verwendet, ebenso wie Schmetterlinge. Parsi Gara-Stoffe sind mit einer Mischung aus realen und phantastischen Kreaturen geschmückt, wie Paradiesvögeln, Kranichen, Phönixen, Pfaue, Fische und Drachen. Weitere interessante Motive stammen aus der Welt der heiligen Pilze aus der chinesischen Tradition. Als die weitgereisten Parsis die europäische Ästhetik kennenlernten, fanden auch Muscheln, Schleifen und Bänder Einzug in die Gara-Gestaltung, ebenso wie die eleganten europäischen Farben und Farbkombinationen. Der ursprünglich für Garas verwendete Stoff hieß Sali Ghaj. Heutzutage haben Seide, Georgette, Crepe, Spitze und andere leichtere Textilien den ursprünglichen Stoff ersetzt. Traditionell werden Gara-Saris im Ulta Palla-Stil drapiert und mit Blusen im europäischen Stil und einer Sudreh (der traditionellen Unterwäsche der Parsis, gemeinsam mit Kusti, der heiligen Schnur) kombiniert.

Handgestickte Magie
In der Parsi Gara-Stickerei werden Satin, Stickwolle oder Aari und Stielstiche verwendet. Auch spezielle Stiche wie der raffinierte französische Knoten oder Khakha und die Jaali-Technik, inspiriert durch die Weberei, werden eingesetzt. Je nach Komplexität der Arbeit kann die Fertigstellung eines Saris mit sechs bis acht Näherinnen, die gemeinsam an einem Stück sitzen, drei Wochen bis hin zu zwei Monaten in Anspruch nehmen. Diese mühevolle Handarbeit hebt die Parsi Gara-Stickerei ab und macht sie so kostbar. Sie ist Teil der Gara-Tradition, bei der reich verzierte Bordüren – traditionelle als Kors bekannt – von alten und beschädigten Gara-Saris auf neuen aufgebracht werden. Diese Saris werden sorgfältig aufbewahrt und als Erbstücke weitergegeben.

Die Tradition am Leben halten
Selbst unter traditionellen Parsis ist der Gara zu einem Kleidungsstück geworden, das nur gelegentlich bei Hochzeiten, Navjotes (zoroastrische Initiationszeremonie) und anderen feierlichen Anlässen getragen wird. Die richtige Balance zwischen dem Erhalt des Kerns der Sticktradition und der Innovation beim Tragen muss geschaffen werden. Präsentationen auf virtuellem und direktem Weg können eine zentrale Rolle spielen, um ein jüngeres Publikum mit diesen Textilien vertraut zu machen. Mein Team und ich experimentieren mit neueren Stoffen und Farben, um dieser traditionellen Kunst einen modernen Look zu verleihen. Wir schulen außerdem Näherinnen, damit sie die Nuancen dieser Stickerei kennenlernen und praktizieren. Unser Ziel ist es, nicht nur ein textiles Kulturvermächtnis zu bewahren, sondern auch die uralte Tradition und Kultur einer Gemeinschaft.